Wilhelm Busch

Die Suchaktion Gottes

Kurzgeschichten der Bibel

 

Der Jesus-Jünger in der vordersten Stellung

 

2. Timotheus 4, 16-17: „In meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle. Es sei ihnen nicht zugerechnet. Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf dass durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden sie hörten; und ich ward erlöst von des Löwen Rachen.“

 

Vor einiger Zeit brachten die Zeitungen Bilder von den Uniformen der westdeutschen Wehrmacht. Als ich diese Bilder sah, fiel mir meine Jugend ein: Mit welchem Wohlgefallen zog man so eine hübsche Uniform an. Aber eines Tages stand man ganz vorn an der Front. – Wisst ihr, was das heißt: ganz vorn? Da ist hinter einem eine lange Etappe. Da sind Bäckereien und Stäbe, da sind Depots und Trainkolonnen. Und dann kommen die Artilleriestellungen. Und dann Gräben. Und dann – ganz vorn – Erdlöcher. Darin kauert man. Vor sich hat man nichts mehr als das Niemandsland, wo der Tod umgeht.

Mir ist das ein Gleichnis für das Reich Gottes in dieser Welt. Da ist manch einer, der hält den Christenstand für eine interessante und gut sitzende Uniform. Aber bald muss er innewerden: Das ist kein Kinderspiel. Mit dem Sterben Jesu und seinem Auferstehen hat Gott den Kampf um die Welt aufgenommen.

Ja, da gibt es auch eine Etappe: Da sind die Millionen Namenchristen, da sind die Stäbe der Kirchenleitungen. Da ist auch die Artillerie. Ich hörte erst kürzlich von einem Kirchenmann sagen: „Der ist eine Kanone.“

Aber wer Jesus gehören will, ist schließlich ganz vom, der Macht der Finsternis und allen Dämonen gegenüber. Ein Ladenmädel das in seinem Betrieb den Weg Jesu gehen will; ein Arbeiter, der seinen Herrn bekennt; eine Mutter, die als einzige in der Familie betet; ein führender Mann, der in der Gesellschaft sich zu Jesu Kreuz bekennt – ja, die wissen, was es heißt: im Kampf des Reiches Gottes ganz vom sein.

In unserem Text erzählt Paulus, was er da erlebte.

 

1) Ganz allein

 

In meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei“, erzählt Paulus. „Sie verließen mich alle.“

Ich kann mir die Situation vorstellen: Lange hatte Paulus in Rom im Gefängnis gesessen. Nun wurde er eines Tages vor Gericht geführt, wahrscheinlich vor den römischen Kaiser selbst. Eine beunruhigende Sache! Die Soldaten, die Wachen, die Richter, das Gedränge der Zuschauer. Dem Paulus ist beklommen zumute. Er schaut in den Zuschauerraum. Da werden die Brüder sein, die römischen Christen. Wie in einem Raubtierkäfig kommt er sich vor. Er sucht den tröstlichen Blick der Brüder, die betend zu ihm stehen. Wo sind die Brüder?

Und dann die Enttäuschung: Es ist keiner da! Sie haben Angst. Sie haben sich nicht herausgewagt. Sie wollen nichts zu tun haben mit dem Mann, der ja doch seiner Hinrichtung entgegengeht.

Diese Enttäuschung! „Und das wollen Christen sein?!“ Wenn jetzt einmal jeder aufstünde, der von Enttäuschungen mit Christen erzählen könnte – da bekämen wir Schreckliches zu hören. Ich kenne Menschen, die durch ihre Enttäuschung an Christen sogar allen Glauben verloren haben.

Paulus allerdings hat es anders gehalten. „Es sei ihnen nicht zugerechnet“. Er wusste: Mein Heiland liebt seine schwachen Schafe am meisten. So muss ich es auch tun. So hat er nicht aufgehört, seine schwachen, versagenden Brüder zu lieben. Ich sehe ihn im Geist, wie er dort im Gerichtssaal für seine armseligen Brüder betet.

Paulus hat der Enttäuschung nicht nachgegeben. Und er hat recht gehabt. Viele dieser Christen sind später doch singend in den Märtyrertod gegangen. Das ist wichtig für uns. Jesus hat Geduld und Liebe. Und wir sollten sie auch haben.

Nun lasst uns noch einmal auf den Paulus sehen. „Es stand mir niemand bei.“ Ein einsamer Mann! Keiner hilft ihm in dieser entscheidenden Stunde, als er ganz vorn an der Front des Reiches Gottes steht. Da sind keine Posaunen, keine frohen Lieder, keine große Gemeinde. Da ist nur noch der Teufel, der ihn kleinkriegen will.

Jeder Jesus-Jünger muss durch solche Anfechtungsstunden hindurch, wo er ganz allein steht, wo ihm niemand helfen kann, wo die letzten Entscheidungen fallen, ob man Jesus gehören oder abfallen will; wo man neu wählen muss zwischen dem bequemen breiten Weg, der doch in die Verdammnis führt, und dem schmalen Weg, der zum Leben führt.

Mein Herz zittert, wenn ich an alle Christen denke, die ganz allein in der vordersten Stellung die Anläufe Satans bestehen müssen.

 

2) „Der Herr aber …“

 

Nun habe ich doch etwas Falsches gesagt. Ein Jesus-Jünger steht niemals ganz allein. Wir spüren die Erschütterung in der Erzählung des Paulus: „Es stand mir niemand bei.“ Und dann geht es weiter, gewaltig weiter: „Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich … und ich ward erlöst aus des Löwen Rachen.“

Ich möchte nicht müde werden, euch zu sagen: Christen haben nicht eine Weltanschauung, sondern einen lebendigen Herrn. Jesus ist auferstanden von den Toten. Und er hat seinen Leuten versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Das sind die ganz großen Stunden in einem Christenleben, wenn man erschrocken ist darüber, wie hilflos man den Mächten der Finsternis allein gegenübersteht, wie schwach das eigene Herz ist, den Kampf des Glaubens siegreich zu Ende zu führen – und wenn dann der Herr selbst fühlbar auf den Plan tritt.

Ja, ich möchte aus eigener Erfahrung bezeugen: Je größer die Anfechtungen sind, desto klarer dürfen wir der Wirklichkeit und Lebendigkeit und Herrlichkeit Jesu innewerden. Je mehr wir den Mut haben ganz vorne an der Front des Reiches Gottes zu stehen, desto mehr machen wir wunderbare Erfahrungen mit dem auferstandenen Herrn Jesus.

Paulus sagt: „Ich ward erlöst aus des Löwen Rachen.“ Ein unerhörtes Bild! So weit ließ es sein Herr mit ihm kommen, dass er waffenlos einem brüllenden Löwen gegenüberstand, der den Rachen gegen ihn aufriss. Und dann riss ihn sein Herr heraus. „Er erlöste mich“, sagt Paulus. Wenn Paulus das Wort „Erlösung“ sagte, dann stand vor seinem geistigen Auge ein viel Größeres als die Gerichtsverhandlung vor dem Kaiser. Erlöst hat ihn sein Heiland, als er am Kreuz starb. Nun gehört er diesem Heiland, der sein erlöstes Eigentum nicht mehr loslässt.

Wenn ihr eine Bibel vor euch hättet, dann würdet ihr sehen, dass unser Text so weitergeht: „Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel und mir aushelfen zu seinem himmlischen Reich.“

Versteht ihr das: Ein Jesus-Jünger im vordersten Graben ist von lauter Erlösung eingeschlossen: Dort das Kreuz von Golgatha, auf der anderen Seite die himmlische Herrlichkeit, und dazwischen der lebendige Herr.

 

3) Der Sieg des Schwachen

 

Es ist wunderbar: Diese dunkle Stunde, die Paulus an der vordersten Front des Reiches Gottes erlebte, wurde zu einer der herrlichsten in seinem Leben. Nicht nur, dass er persönlich erfuhr, wie Jesu durchgrabene Hand ihn festhielt. Viel mehr: Diese ganze Gerichtsverhandlung wurde zu einem Sieg des Evangeliums. Paulus bekam durch den Heiligen Geist eine solche Freudigkeit, dass er gar nicht mehr daran dachte, sich zu verteidigen. Er bezeugte das Evangelium in Vollmacht.

Ich sehe die Szene vor mir: Der Kaiser horcht auf, die Richter staunen, die Wachen reißen Mund und Nase auf, die Zuhörermenge wird still, dass man die berühmte Nadel fallen hören könnte, als Paulus ihnen die Botschaft sagt: „So sehr hat Gott diese Welt“ – er macht eine weite Armbewegung über alle hin, über Kaiser, Wachen und Volk – „diese Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle“ – wieder die Armbewegung, die alle umfasst: Richter, Pöbel, Kaiser und Soldaten – „auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Später sitzt Paulus wieder in der Zelle und berichtet dem Timotheus: „Der Herr stärkte mich, dass durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden hörten.“

Wie herrlich ist das Evangelium! Wie herrlich der Herr Jesus! Wie stark sein Geist! Wie armselig der Teufel und die Welt, die sich so wichtig tun!

Und nun sind wir gefragt, ob wir nicht auch endlich an die vorderste Front des Reiches Gottes gehen wollen.