2. Timotheus 4, 16-17: „In meiner
ersten Verantwortung stand mir niemand bei, sondern sie verließen mich alle. Es
sei ihnen nicht zugerechnet. Der Herr aber stand mir bei und stärkte mich, auf dass
durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden sie hörten; und ich ward
erlöst von des Löwen Rachen.“
Vor
einiger Zeit brachten die Zeitungen Bilder von den Uniformen der westdeutschen
Wehrmacht. Als ich diese Bilder sah, fiel mir meine Jugend ein: Mit welchem
Wohlgefallen zog man so eine hübsche Uniform an. Aber eines Tages stand man
ganz vorn an der Front. – Wisst ihr, was das heißt: ganz vorn? Da ist hinter
einem eine lange Etappe. Da sind Bäckereien und Stäbe, da sind Depots und Trainkolonnen. Und dann kommen die Artilleriestellungen.
Und dann Gräben. Und dann – ganz vorn – Erdlöcher. Darin kauert man. Vor sich
hat man nichts mehr als das Niemandsland, wo der Tod umgeht.
Mir
ist das ein Gleichnis für das Reich Gottes in dieser Welt. Da ist manch einer,
der hält den Christenstand für eine interessante und gut sitzende Uniform. Aber
bald muss er innewerden: Das ist kein Kinderspiel. Mit dem Sterben Jesu und seinem
Auferstehen hat Gott den Kampf um die Welt aufgenommen.
Ja,
da gibt es auch eine Etappe: Da sind die Millionen Namenchristen, da sind die
Stäbe der Kirchenleitungen. Da ist auch die Artillerie. Ich hörte erst kürzlich
von einem Kirchenmann sagen: „Der ist eine Kanone.“
Aber
wer Jesus gehören will, ist schließlich ganz vom, der Macht der Finsternis und
allen Dämonen gegenüber. Ein Ladenmädel das in seinem Betrieb den Weg Jesu
gehen will; ein Arbeiter, der seinen Herrn bekennt; eine Mutter, die als einzige
in der Familie betet; ein führender Mann, der in der Gesellschaft sich zu Jesu
Kreuz bekennt – ja, die wissen, was es heißt: im Kampf des Reiches Gottes ganz
vom sein.
In
unserem Text erzählt Paulus, was er da erlebte.
1) Ganz allein
In
meiner ersten Verantwortung stand mir niemand bei“, erzählt Paulus. „Sie
verließen mich alle.“
Ich
kann mir die Situation vorstellen: Lange hatte Paulus in Rom im Gefängnis
gesessen. Nun wurde er eines Tages vor Gericht geführt, wahrscheinlich vor den
römischen Kaiser selbst. Eine beunruhigende Sache! Die Soldaten, die Wachen, die
Richter, das Gedränge der Zuschauer. Dem Paulus ist beklommen zumute. Er schaut
in den Zuschauerraum. Da werden die Brüder sein, die römischen Christen. Wie in
einem Raubtierkäfig kommt er sich vor. Er sucht den tröstlichen Blick der Brüder,
die betend zu ihm stehen. Wo sind die Brüder?
Und
dann die Enttäuschung: Es ist keiner da! Sie haben Angst. Sie haben sich nicht
herausgewagt. Sie wollen nichts zu tun haben mit dem Mann, der ja doch seiner
Hinrichtung entgegengeht.
Diese
Enttäuschung! „Und das wollen Christen sein?!“ Wenn jetzt einmal jeder
aufstünde, der von Enttäuschungen mit Christen erzählen könnte – da bekämen wir
Schreckliches zu hören. Ich kenne Menschen, die durch ihre Enttäuschung an Christen
sogar allen Glauben verloren haben.
Paulus
allerdings hat es anders gehalten. „Es sei ihnen nicht zugerechnet“. Er wusste:
Mein Heiland liebt seine schwachen Schafe am meisten. So muss ich es auch tun.
So hat er nicht aufgehört, seine schwachen, versagenden Brüder zu lieben. Ich sehe
ihn im Geist, wie er dort im Gerichtssaal für seine armseligen Brüder betet.
Paulus
hat der Enttäuschung nicht nachgegeben. Und er hat recht gehabt. Viele dieser
Christen sind später doch singend in den Märtyrertod gegangen. Das ist wichtig
für uns. Jesus hat Geduld und Liebe. Und wir sollten sie auch haben.
Nun
lasst uns noch einmal auf den Paulus sehen. „Es stand mir niemand bei.“ Ein
einsamer Mann! Keiner hilft ihm in dieser entscheidenden Stunde, als er ganz
vorn an der Front des Reiches Gottes steht. Da sind keine Posaunen, keine
frohen Lieder, keine große Gemeinde. Da ist nur noch der Teufel, der ihn kleinkriegen will.
Jeder
Jesus-Jünger muss durch solche Anfechtungsstunden hindurch, wo er ganz allein
steht, wo ihm niemand helfen kann, wo die letzten Entscheidungen fallen, ob man
Jesus gehören oder abfallen will; wo man neu wählen muss zwischen dem bequemen
breiten Weg, der doch in die Verdammnis führt, und dem schmalen Weg, der zum
Leben führt.
Mein
Herz zittert, wenn ich an alle Christen denke, die ganz allein in der
vordersten Stellung die Anläufe Satans bestehen müssen.
2) „Der Herr aber …“
Nun
habe ich doch etwas Falsches gesagt. Ein Jesus-Jünger steht niemals ganz
allein. Wir spüren die Erschütterung in der Erzählung des Paulus: „Es stand mir
niemand bei.“ Und dann geht es weiter, gewaltig weiter: „Der Herr aber stand
mir bei und stärkte mich … und ich ward erlöst aus des Löwen Rachen.“
Ich
möchte nicht müde werden, euch zu sagen: Christen haben nicht eine
Weltanschauung, sondern einen lebendigen Herrn. Jesus ist auferstanden von den
Toten. Und er hat seinen Leuten versprochen: „Ich bin bei euch alle Tage, bis
an der Welt Ende.“ Das sind die ganz großen Stunden in einem Christenleben,
wenn man erschrocken ist darüber, wie hilflos man den Mächten der Finsternis
allein gegenübersteht, wie schwach das eigene Herz ist, den Kampf des Glaubens
siegreich zu Ende zu führen – und wenn dann der Herr selbst fühlbar auf den
Plan tritt.
Ja,
ich möchte aus eigener Erfahrung bezeugen: Je größer die Anfechtungen sind,
desto klarer dürfen wir der Wirklichkeit und Lebendigkeit und Herrlichkeit Jesu
innewerden. Je mehr wir den Mut haben ganz vorne an der Front des Reiches Gottes
zu stehen, desto mehr machen wir wunderbare Erfahrungen mit dem auferstandenen
Herrn Jesus.
Paulus
sagt: „Ich ward erlöst aus des Löwen Rachen.“ Ein unerhörtes Bild! So weit ließ
es sein Herr mit ihm kommen, dass er waffenlos einem brüllenden Löwen
gegenüberstand, der den Rachen gegen ihn aufriss. Und dann riss ihn sein Herr heraus.
„Er erlöste mich“, sagt Paulus. Wenn Paulus das Wort „Erlösung“ sagte, dann
stand vor seinem geistigen Auge ein viel Größeres als die Gerichtsverhandlung
vor dem Kaiser. Erlöst hat ihn sein Heiland, als er am Kreuz starb. Nun gehört
er diesem Heiland, der sein erlöstes Eigentum nicht mehr loslässt.
Wenn
ihr eine Bibel vor euch hättet, dann würdet ihr sehen, dass unser Text so
weitergeht: „Der Herr aber wird mich erlösen von allem Übel und mir aushelfen
zu seinem himmlischen Reich.“
Versteht
ihr das: Ein Jesus-Jünger im vordersten Graben ist von lauter Erlösung
eingeschlossen: Dort das Kreuz von Golgatha, auf der anderen Seite die himmlische
Herrlichkeit, und dazwischen der lebendige Herr.
3) Der Sieg des Schwachen
Es
ist wunderbar: Diese dunkle Stunde, die Paulus an der vordersten Front des
Reiches Gottes erlebte, wurde zu einer der herrlichsten in seinem Leben. Nicht
nur, dass er persönlich erfuhr, wie Jesu durchgrabene
Hand ihn festhielt. Viel mehr: Diese ganze Gerichtsverhandlung wurde zu einem
Sieg des Evangeliums. Paulus bekam durch den Heiligen Geist eine solche
Freudigkeit, dass er gar nicht mehr daran dachte, sich zu verteidigen. Er
bezeugte das Evangelium in Vollmacht.
Ich
sehe die Szene vor mir: Der Kaiser horcht auf, die Richter staunen, die Wachen
reißen Mund und Nase auf, die Zuhörermenge wird still, dass man die berühmte
Nadel fallen hören könnte, als Paulus ihnen die Botschaft sagt: „So sehr hat
Gott diese Welt“ – er macht eine weite Armbewegung über alle hin, über Kaiser,
Wachen und Volk – „diese Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab,
auf dass alle“ – wieder die Armbewegung, die alle umfasst: Richter, Pöbel,
Kaiser und Soldaten – „auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden,
sondern das ewige Leben haben.“
Später
sitzt Paulus wieder in der Zelle und berichtet dem Timotheus: „Der Herr stärkte
mich, dass durch mich die Predigt bestätigt würde und alle Heiden hörten.“
Wie
herrlich ist das Evangelium! Wie herrlich der Herr Jesus! Wie stark sein Geist!
Wie armselig der Teufel und die Welt, die sich so wichtig tun!
Und
nun sind wir gefragt, ob wir nicht auch endlich an die vorderste Front des
Reiches Gottes gehen wollen.