Wilhelm Busch

Elisa am Jordan

 

„Der Mann Gottes sprach: Wo ist das Eisen entfallen? Und da er ihm den Ort zeigte, schnitt er ein Holz ab und stieß dahin. Da schwamm das Eisen." 2. Könige 6, 6

 

Wir können uns die Situation, in der unsere Textgeschichte spielt, heutzutage so gut vorstellen:

Da sind arme Leute. Die wohnen so fürchterlich eng beieinander, dass sie beschließen: „Wir wollen uns ein Behelfsheim bauen!" Unten am Fluss ziehen sich endlose Wälder hin. So macht man sich nun auf, um Holz zu schlagen. Einer ist so arm, dass er nicht einmal eine Axt besitzt. Die muss er sich erst bei einem Nachbarn leihen.

Und diesem Unglücksvogel passiert nun das Missgeschick: Als er mit der Axt ausholt, fliegt das Eisen vom Griff und fällt in hohem Bogen in den Fluss. „O weh, mein Herr", schreit der arme Mann entsetzt dem Propheten Elisa zu, „o weh, dazu ist es entlehnt!" (Wie echt ist das! Über ein geliehenes Buch schüttet man den Inhalt der Kaffee­tasse. Der geliehene Schirm knickt uns um!)

Schweigend schneidet Elisa ein Holz, stößt es an der Unglücksstelle ins Wasser. Da taucht das Eisen auf. Glückselig ergreift es der Ver­lierer.

 

 

Das Wunderholz

 

1. Vor 3000 Jahren war es so notwendig wie heute

Es ist eine wunderliche, ja befremdliche Geschichte. Und die uner­leuchteten Geister sind schnell bei der Hand: „Das ist eben eine alte Sage."

Aber wir sollten lieber fragen: Warum hat es dem Heiligen Geist gefallen, uns diese kleine Geschichte zu überliefern, wo doch nur die wichtigsten Dinge in der knappsten Form in der Bibel erzählt wer­den?

Darauf können wir antworten: Diese Geschichte von der verlorenen und wiedergefundenen Axt zeigt, dass Gott die kleinen Nöte der armen Leute ernst nimmt. Das ist für uns Menschen von heute ein sehr großer Trost. Unser Leben ist ja ausgefüllt mit lauter so kleinen Nöten und Widerwärtigkeiten. Und ich bin sehr froh, dass ich in die­ser Geschichte erfahre: Ich muss meine Alltagsnöte nicht allein ausfechten. Er, der Herr, ist vorhanden, der mich darin ernst nimmt und der mir mit großem Erbarmen beisteht.

Aber ist nun damit wirklich der Sinn dieser Geschichte erschöpft? Ich habe immer das Gefühl gehabt, sie wolle noch mehr sagen. Und darum habe ich mich im Geist neben den Mann gesetzt, der dort seine Axt in den Fluten versinken sah. Und nun sehe ich es auf ein­mal auch versinken: nicht eine Axt nur, sondern viel Wertvolleres. Ich sehe, wie die Jugend meines Volkes versinkt in Nihilismus und entsetzlichem geistigen und geistlichen Tod. Ich sehe sie versinken in dunklen Unehrlichkeiten und sexuellem Schmutz. Ich sehe alte Men­schen versinken in völliger Verzweiflung. Ich sehe Christenleute, deren geistliches Leben hoffnungslos versinkt in den Fluten der täg­lichen Sorgen oder in den glitzernden Wellen eines verweltlichten Lebens.

Ich sehe Gebetsleben versinken, weil man Gott doch nicht mehr traut. Ich sehe Reinheit untergehen, weil man des Kampfes müde geworden ist. Ich sehe die Liebe versinken, weil der Kampf ums Dasein uns zu Raubtieren macht. Alles, alles reißt der grausame Strom des Lebens hinweg. Und ich rufe mit jenem Mann: „O weh, mein Herr!"

Und dann erlebe ich es wieder, wie der Elisa jenes seltsame Holz in das Wasser stößt, welches das Eisen auftauchen lässt. Und ich frage: Gibt es denn nicht auch so ein Wunderholz für Menschenseelen, das sie herausholt aus den Tiefen?

Ja, es muss so ein Wunderholz geben. Denn Menschenseelen sind unserm Gott doch ebenso wertvoll wie das Eisen einer Axt, ja, viel wertvoller.

 

2. Vor 2000 Jahren wurde es wirksam

Ihr ahnt, wo ich hinaus will. Es gibt solch ein Wunderholz, das die Menschenseelen aus den Tiefen des Lebensstromes herausholt. Das ist das Kreuz auf Golgatha, das Kreuz, an dem der Sohn Gottes hing.

Vor 2000 Jahren wurde es hineingestoßen in den flutenden Strom der Menschenwelt. Und in dem Augenblick, als das geschah, ereig­nete sich etwas Wunderbares: Sinkende Menschenseelen tauchten auf. Da war der Schacher. Ich denke, sein Leben hat sich ganz folge­richtig entwickelt: üble Erbanlagen, keine rechte Erziehung, schlechte Gesellschaft — so sank er, bis er ein Verbrecher war — bis er gerich­tet am Kreuz hing. So musste er weitersinken bis in die Hölle. Denn:

„Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Was der Mensch säet, das wird er ernten." (Galater 6, 7). Aber dann steht neben ihm das Kreuz des Hei­landes. Er sieht und glaubt und ruft an. Und — das Sinken ist zu Ende. Er steigt auf. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein", verheißt Jesus ihm. O das Wunderholz des Kreuzes! Da ist der römische Hauptmann. Man hat bisher nichts Besonderes von ihm gehört. Also war er wohl wie alle, versunken in Roheit, Heidentum, Selbstsucht. Eiskalt sah er den grässlichen Hinrichtungen zu.

Aber er steht unter Jesu Kreuz. Das beweist sich wieder als das Wunderholz. Auf einmal taucht die versunkene Seele an das Licht: Der Mann gibt Laufbahn und Ehre und alles preis und bekennt laut die Wahrheit: „Dieser ist Gottes Sohn!"

Und da war der Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Ach, was sollte dieser große Titel! Er war ein ängstlicher Mann, versunken in Menschenfurcht und Respekt vor der öffentlichen Meinung. — Und dann steht er unter Jesu Kreuz. Da taucht die versunkene Seele auf. „Er wagte es und ging zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu." Ein unerschrockener Mann, der die Menschenfurcht hinter sich ge­lassen hat.

Und da ist der junge Pharisäer Saulus. Ein Fanatiker! „Er schnaubte mit Drohen und Morden..." Fanatiker sind schrecklich und müssen wie Amokläufer ihren Weg zu Ende rasen. — Aber nicht so Saulus! Der Gekreuzigte begegnet ihm. Da erwacht die Seele zur Nüchtern­heit und Klarheit. Und er wird ein Segen für die Welt.

 

3. Heute noch beweist es seine Kraft

Jawohl, das Wunderholz des Kreuzes Christi wird auch heute noch hineingestoßen in den Menschenstrom. Ununterbrochen bringt es versunkene Seelen an das Licht. Ich kenne einen noch jungen Mann in guten Verhältnissen. Der kam einst mit einem Saufkumpanen als verkommener Landstreicher in das Haus eines Christen. Der Kum­pan zog weiter. Ihn aber hielt das Zeugnis vom gekreuzigten Hei­land. Die Liebe dieses Heilandes brachte seine Seele an das Licht. Und heute ist er für sehr viele ein großer Segen. Aber ich möchte euch noch auf einen besonderen Zug der Text­geschichte aufmerksam machen:

Das Wunderholz brachte das Eisen gegen die Gesetze der Natur zum Schwimmen. Das ist auch die eigenartige Kraft des neutestamentlichen Wunderholzes, dass es die Natur überwindet.

Nur eins von vielen Beispielen: C. H. Spurgeon war ein schüchterner junger Mann voller Hemmungen. Als er unter Jesu Kreuz die Ret­tung gefunden hatte, wurde er der unerschrockene und offene Zeuge der Wahrheit, unter dessen Kanzel Tausende saßen. Das Kreuz über­wand die Natur.

Unter Jesu Kreuz werden die Oberflächlichen besinnlich, die Unkeu­schen lieben die Reinheit und werden empfindlich gegen den Schmutz. Die Lügner ringen um Wahrheit, die Hartherzigen werden barmherzig. Und wenn ihr mit mir überzeugt seid, dass unsere Natur uns in die Hölle bringt, dann lasst uns unter Jesu Kreuz gehen!