„Der Mann Gottes sprach: Wo ist das Eisen entfallen? Und da
er ihm den Ort zeigte, schnitt er ein Holz ab und stieß dahin. Da schwamm das
Eisen."
2. Könige 6, 6
Wir können uns die Situation, in der unsere Textgeschichte
spielt, heutzutage so gut vorstellen:
Da sind arme Leute. Die wohnen so fürchterlich eng
beieinander, dass sie beschließen: „Wir wollen uns ein Behelfsheim bauen!"
Unten am Fluss ziehen sich endlose Wälder hin. So macht man sich nun auf, um
Holz zu schlagen. Einer ist so arm, dass er nicht einmal eine Axt besitzt. Die
muss er sich erst bei einem Nachbarn leihen.
Und diesem Unglücksvogel passiert nun das Missgeschick: Als
er mit der Axt ausholt, fliegt das Eisen vom Griff und fällt in hohem Bogen in
den Fluss. „O weh, mein Herr", schreit der arme Mann entsetzt dem
Propheten Elisa zu, „o weh, dazu ist es entlehnt!" (Wie echt ist das! Über
ein geliehenes Buch schüttet man den Inhalt der Kaffeetasse. Der geliehene
Schirm knickt uns um!)
Schweigend schneidet Elisa ein Holz, stößt es an der
Unglücksstelle ins Wasser. Da taucht das Eisen auf. Glückselig ergreift es der
Verlierer.
1. Vor 3000 Jahren war es so notwendig wie heute
Es ist eine wunderliche, ja befremdliche Geschichte. Und die
unerleuchteten Geister sind schnell bei der Hand: „Das ist eben eine alte
Sage."
Aber wir sollten lieber fragen: Warum hat es dem Heiligen
Geist gefallen, uns diese kleine Geschichte zu überliefern, wo doch nur die
wichtigsten Dinge in der knappsten Form in der Bibel erzählt werden?
Darauf können wir antworten: Diese Geschichte von der
verlorenen und wiedergefundenen Axt zeigt, dass Gott die kleinen Nöte der armen
Leute ernst nimmt. Das ist für uns Menschen von heute ein sehr großer Trost.
Unser Leben ist ja ausgefüllt mit lauter so kleinen Nöten und
Widerwärtigkeiten. Und ich bin sehr froh, dass ich in dieser Geschichte
erfahre: Ich muss meine Alltagsnöte nicht allein ausfechten.
Er, der Herr, ist vorhanden, der mich darin ernst nimmt und der mir mit großem
Erbarmen beisteht.
Aber ist nun damit wirklich der Sinn dieser Geschichte
erschöpft? Ich habe immer das Gefühl gehabt, sie wolle noch mehr sagen. Und
darum habe ich mich im Geist neben den Mann gesetzt, der dort seine Axt in den Fluten
versinken sah. Und nun sehe ich es auf einmal auch versinken: nicht eine Axt
nur, sondern viel Wertvolleres. Ich sehe, wie die Jugend meines Volkes versinkt
in Nihilismus und entsetzlichem geistigen und geistlichen Tod. Ich sehe sie
versinken in dunklen Unehrlichkeiten und sexuellem Schmutz. Ich sehe alte Menschen
versinken in völliger Verzweiflung. Ich sehe Christenleute, deren geistliches
Leben hoffnungslos versinkt in den Fluten der täglichen Sorgen oder in den
glitzernden Wellen eines verweltlichten Lebens.
Ich sehe Gebetsleben versinken, weil man Gott doch nicht
mehr traut. Ich sehe Reinheit untergehen, weil man des Kampfes müde geworden
ist. Ich sehe die Liebe versinken, weil der Kampf ums Dasein uns zu Raubtieren
macht. Alles, alles reißt der grausame Strom des Lebens hinweg. Und ich rufe
mit jenem Mann: „O weh, mein Herr!"
Und dann erlebe ich es wieder, wie der Elisa jenes seltsame
Holz in das Wasser stößt, welches das Eisen auftauchen lässt. Und ich frage:
Gibt es denn nicht auch so ein Wunderholz für Menschenseelen, das sie
herausholt aus den Tiefen?
Ja, es muss so ein Wunderholz geben. Denn Menschenseelen
sind unserm Gott doch ebenso wertvoll wie das Eisen einer Axt, ja, viel
wertvoller.
2. Vor 2000 Jahren wurde es wirksam
Ihr ahnt, wo ich hinaus will. Es gibt solch ein Wunderholz,
das die Menschenseelen aus den Tiefen des Lebensstromes herausholt. Das ist das
Kreuz auf Golgatha, das Kreuz, an dem der Sohn Gottes hing.
Vor 2000 Jahren wurde es hineingestoßen in den flutenden
Strom der Menschenwelt. Und in dem Augenblick, als das geschah, ereignete sich
etwas Wunderbares: Sinkende Menschenseelen tauchten auf. Da war der Schacher.
Ich denke, sein Leben hat sich ganz folgerichtig entwickelt: üble Erbanlagen,
keine rechte Erziehung, schlechte Gesellschaft — so sank er, bis er ein
Verbrecher war — bis er gerichtet am Kreuz hing. So musste er weitersinken bis
in die Hölle. Denn:
„Irret euch nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Was der
Mensch säet, das wird er ernten." (Galater 6, 7). Aber dann steht neben
ihm das Kreuz des Heilandes. Er sieht und glaubt und ruft an. Und — das Sinken
ist zu Ende. Er steigt auf. „Heute wirst du mit mir im Paradiese sein",
verheißt Jesus ihm. O das Wunderholz des Kreuzes! Da ist der römische
Hauptmann. Man hat bisher nichts Besonderes von ihm gehört. Also war er wohl
wie alle, versunken in Roheit, Heidentum, Selbstsucht. Eiskalt sah er den
grässlichen Hinrichtungen zu.
Aber er steht unter Jesu Kreuz. Das beweist sich wieder als
das Wunderholz. Auf einmal taucht die versunkene Seele an das Licht: Der Mann
gibt Laufbahn und Ehre und alles preis und bekennt laut die Wahrheit: „Dieser
ist Gottes Sohn!"
Und da war der Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. Ach,
was sollte dieser große Titel! Er war ein ängstlicher Mann, versunken in
Menschenfurcht und Respekt vor der öffentlichen Meinung. — Und dann steht er
unter Jesu Kreuz. Da taucht die versunkene Seele auf. „Er wagte es und ging zu
Pilatus und bat um den Leichnam Jesu." Ein unerschrockener Mann, der die
Menschenfurcht hinter sich gelassen hat.
Und da ist der junge Pharisäer Saulus. Ein Fanatiker! „Er
schnaubte mit Drohen und Morden..." Fanatiker sind schrecklich und müssen
wie Amokläufer ihren Weg zu Ende rasen. — Aber nicht so Saulus! Der Gekreuzigte
begegnet ihm. Da erwacht die Seele zur Nüchternheit und Klarheit. Und er wird
ein Segen für die Welt.
3. Heute noch beweist es seine Kraft
Jawohl, das Wunderholz des Kreuzes Christi wird auch heute
noch hineingestoßen in den Menschenstrom. Ununterbrochen bringt es versunkene
Seelen an das Licht. Ich kenne einen noch jungen Mann in guten Verhältnissen.
Der kam einst mit einem Saufkumpanen als verkommener Landstreicher in das Haus
eines Christen. Der Kumpan zog weiter. Ihn aber hielt das Zeugnis vom
gekreuzigten Heiland. Die Liebe dieses Heilandes brachte seine Seele an das
Licht. Und heute ist er für sehr viele ein großer Segen. Aber ich möchte euch
noch auf einen besonderen Zug der Textgeschichte aufmerksam machen:
Das Wunderholz brachte das Eisen gegen die Gesetze der Natur
zum Schwimmen. Das ist auch die eigenartige Kraft des neutestamentlichen
Wunderholzes, dass es die Natur überwindet.
Nur eins von
vielen Beispielen: C. H. Spurgeon war ein schüchterner junger Mann voller
Hemmungen. Als er unter Jesu Kreuz die Rettung gefunden hatte, wurde er der
unerschrockene und offene Zeuge der Wahrheit, unter dessen Kanzel Tausende
saßen. Das Kreuz überwand die Natur.
Unter Jesu Kreuz werden die Oberflächlichen besinnlich, die Unkeuschen lieben die Reinheit und werden empfindlich gegen den Schmutz. Die Lügner ringen um Wahrheit, die Hartherzigen werden barmherzig. Und wenn ihr mit mir überzeugt seid, dass unsere Natur uns in die Hölle bringt, dann lasst uns unter Jesu Kreuz gehen!