Wilhelm Busch - Kleine Erzählungen

 

Singen hilft siegen

 

Ungleiche Reisegesellschaft and wie man ihrer Herr wird!

„Mensch, guck dir dies Gedränge an!" — Rappelvoll stand der Bahnsteig des riesigen Frankfurter Hauptbahnhofs. Und als der Personenzug nach Heidelberg endlich anrückte, gab's einen Sturm wie auf die „Düppeler Schanzen".

Nun ja, Ferienanfang! Da geht's eben ein bißchen stürmisch her auf der Eisenbahn.

Mit meinen Geschwistern hatte ich mich in ein großes Abteil „für Reisende mit Traglasten" gequetscht. Jeder kennt ja die Wagen: „9 Sitzplätze, 20 Stehplätze". Unserer alten Mutter hatten wir im Eck einen Sitzplatz ergattert. Wir anderen türm­ten unser Gepäck aufeinander und setzten uns darauf. Ja, und dann ging's los! Der Bummelzug hielt an jedem Nest. Wenn man gerade meinte, nun sei er glücklich in Fahrt, da war's schon wieder aus. Und kein Mensch wollte aussteigen! Im Gegenteil, immer mehr stiegen zu. Wir hatten das Gefühl, als reise die ganze Menschheit nach Heidelberg. Und dazu brannte die Sonne nicht schlecht auf die heißen, überfüllten Wagen. Es war schon kein Vergnügen mehr. Kein Wunder, daß die Stimmung im Abteil „für Reisende mit Traglasten" schlecht, ja geradezu ge­reizt war. Es fehlte nur noch das „Streichholz", welches das Pulverfaß zur „Explosion" brachte. Das kam dann auch wirk­lich an irgendeiner Station in Gestalt einer sehr resoluten Frau, die, ihr Kindchen auf dem Arm, auch noch mitfahren wollte.

„Besetzt!" brüllte ein Mann zum Fenster hinaus.

Die Frau tat, als habe sie nichts gehört. Entschlossen riß sie die Tür auf und drängte sich herein.

„Ich habe Ihnen doch gesagt, daß besetzt ist", sagte der Mann scharf und drückte gegen die Frau.

„Ich muß aber mit", schrie sie aufgeregt und drückte sich herein. Sie hätte aber doch den Kürzeren gezogen, wenn nicht der Schaffner von außen her die Türe zugequetscht hätte.

„Nu ist die Heringstonne fertig", meinte einer trocken.

Aber der wütende Mann hatte keinen Sinn für Humor. Er schimpfte Mord und Brand. Alle seine Gereiztheit ließ er an der armen Frau aus.

Andere fielen ihm zu.

Doch die Frau hatte den Mund am rechten Fleck. Kein Wort blieb sie schuldig. Und bald war der hitzigste Krach im Gange.

Der Mann wurde vor Wut richtig blaurot im Gesicht.

Der Krach nahm immer bedrohlichere Formen an. Da — stimmt unsere Mutter mit ihrer schönen, hellen Stimme ein Lied an. Wir begreifen schnell und fallen, zuerst ein wenig verlegen, ein. Aber dann klingt's aus acht Kehlen:

 

„Geh aus, mein Herz, und suche Freud

In dieser schönen Sommerzeit . . ."

 

Wahrhaftig, wir singen den Krach einfach nieder. Die Leute schauen uns erstaunt an. Jede Miene fragt: „Seid ihr verrückt?"

Aber nun sind wir schon mal dran und machen fröhlich wei­ter. Und das schöne Lied hat viele Strophen.

 

„Die Baume stehen voller Laub,

Das Erdreich decket seinen Staub

Mit einem grünen Kleide ..."

 

Wirklich, jetzt gucken schon ein paar ganz schüchtern aus dem Fenster und entdecken auch, daß da draußen in sommer­licher Herrlichkeit Gottes schöne Welt liegt.

 

„Die Bächlein rauschen in dem Sand

Und malen sich und ihren Rand

Mit schattenreichen Myrten.

Die Wiesen Hegen hart dabei . . ."

 

Uns selber gefällt unser Lied immer besser. Und — wie es scheint — den Leuten auch. Sie schweigen jetzt wenigstens.

 

„Der Weizen wachset mit Gewalt,

Darüber freut sich jung und alt

Und rühmt die große Güte

Des, der so überschwenglich labt

Und mit so manchem Gut begabt

Das menschliche Gemüte."

 

Ach, wie schaut der Mann noch finster drein! Und wie bissig ist das Gesicht der Frau! Aber wo Gottes Lob erklingt, hält's der Teufel nicht aus.

 

„Ich selber kann und mag nicht ruhn,

Des großen Gottes großes Tun

Erweckt mir alle Sinnen.

Ich singe mit, wenn alles singt . . .“

 

Wie ging es nun weiter? Allmählich hellte sich die böse Miene des Mannes auf, und er rückte ein ganz klein wenig beiseite. So hatte die Frau nun auf einmal Platz und guckte auch schon fröhlicher in die Welt.

Wir aber sangen und sangen . . . Wir sangen die Ewigkeit in die Zeit.

 

„Welch hohe Lust, welch heller Schein

Wird wohl in Christi Garten sein?

Wie wird es da wohl klingen . . ."

 

Und schließlich schlössen wir unser Lied mit dem ernsten Gebetsvers:

 

„Erwähle mich zum Paradeis

Und laß mich bis zur letzten Reis'

An Leib und Seele grünen . . ."

 

Wir waren zu Ende. Da erhob sich in der Ecke ein Mann und bot der Frau schweigend seinen Platz an. Jeder bemühte sich auf einmal, so lieb wie möglich zu sein. Und da war's nun — selt­sam — ganz erträglich im Abteil. Alle hatten Platz genug, die überhitzte Spannung war verflogen. Schließlich meinte jemand schüchtern: „Singen Sie doch noch eins." So stimmten wir an:

 

„Harre, meine Seele, harre des Herrn . . ."

 

Das konnten viele. Erst brummten sie leise mit, bald sangen ein paar und rissen die anderen mit, und schließlich sangen alle. Und so sangen wir miteinander bis Heidelberg hinauf.