Es war einmal ein Mann. Der hatte einen Traum. Und zwar träumte ihm, er
sei gestorben und stehe vor dem Throne Gottes.
Es wurde dort offenbar Gericht gehalten. Denn er sah vor sich eine große
Anzahl Menschen. Einer nach dem anderen trat vor. Bücher wurden aufgetan.
Der Mann griff nach seiner Brusttasche und war sofort beruhigt, als er
hier seine Papiere fühlte.
Endlich kam auch er an die Reihe.
Da stand er vor diesen Augen, die ihn so ernst und durchdringend
anschauten. Er fühlte eine leichte Unruhe. So hatte er sich Gott nicht gedacht,
so ernst, so unbestechlich, so klar, so wirklich. Und merkwürdig — gerade in
diesem Augenblick fielen ihm eine ganze Menge Versäumnisse seines Lebens ein,
an die er vorher nie gedacht hatte. Es fiel ihm z. B. ein, daß er sich um Gott
im Ernst gar nicht gekümmert hatte. Es fiel ihm ein, daß er eigentlich nie
seinen Kindern von dieser ernsten Gerichtsstunde gesagt hatte. Es fiel ihm ein,
daß . . .
Er fuhr zusammen. Fordernd schauten ihn die Augen Gottes an. Da
schüttelte er sein Unbehagen ab, langte in die Brusttasche, zog einen Schein
heraus und hielt ihn triumphierend hin. Es war sein Taufschein. Mußte
der hier nicht genügen? Gewiß, damit würde man ihn freigeben. Das war ihm
sicher.
Ein Engel nahm ihm den Schein ab, sah hinein und legte ihn schweigend
beiseite.
Lodernd schauten die Augen den Mann weiter an. Er erschrak. Ganz
plötzlich fiel ihm ein: Hier galt der Taufschein wohl nicht als Entlastung,
sondern als Belastung, als Anklage gegen ihn. Denn hatte seine Taufe ihn nicht
verpflichtet, ernstlich Gott anzugehören?
Erschrocken fuhr er in die Tasche und zog einen anderen Schein heraus.
Es war sein Konfirmationsschein. Hier hatte er es doch schwarz auf weiß,
daß er ein guter Christ gewesen war. Das mußte Geltung haben. Nun würde man ihn
bestimmt loslassen.
Da war ihm, als sähen die Feueraugen fast spöttisch auf ihn. Der Engel
aber nahm den Schein ganz ruhig und — legte ihn beiseite.
Mit tiefem Schrecken erkannte mit einem Male der Mann: „Hatte ich mich
nicht dem Herrn Jesus angelobt in der Konfirmation? Hatte ich nicht . .
." Oh, er wußte noch sehr gut, wie ihm das Herz damals am kleinen
Dorfaltar bis in den Hals hinein geschlagen hatte. Mutter hatte geweint, Vater
hatte ihn still in die Arme genommen. Und was hatte er in der Stunde nicht
alles für Gedanken und Vorsätze im Herzen gehabt?! „Und — ich habe anderen
Göttern gedient, ich habe . . .", so ging es ihm jetzt durchs Herz.
Aber er riß sich zusammen. „Liebe Zeit, man hat doch noch mehr."
Wieder griff er in die Brusttasche, zog gleich einen ganzen Packen Zettel
heraus: „Hier! Und hier! Und hier! Bitte, bitte!" Ganz keck klang das
beinahe. Es waren lauter Quittungen über allerei Stiftungen, Wohltaten,
Kirchensteuer-Bescheinigungen und ähnliche Dinge. „Hier! Hier . .
."
„Und — — — hier!" sprach dann die Stimme Gottes gewaltig. Er
zeigte auf das Buch, das der Engel hielt. Der las:
Erstes Gebot: Ich bin der Herr,
dein Gott. Du sollst keine anderen
Götter haben neben mir.
Dieser Mann aber hat dich, o Herr, nicht geehrt. Er war sein eigener
Gott. Sein Geld war sein Gott. Die Natur war sein Gott. Er ist schuldig.
Zweites Gebot: Du sollst den Namen
des Herrn, deines Gottes, nicht unnützlich führen . . .
Dieser Mann aber hat deinen Namen nicht im Gebet, im Loben und Danken
gerufen. Er hat ihn beim Fluchen leichtsinnig mißbraucht. Er hat gedankenlos
deinen Namen dauernd im Munde gehabt. Aber sein Herz war tot. Er ist
schuldig.
Drittes Gebot: Du sollst den Feiertag heiligen.
Dieser Mann hatte tausendfach Gelegenheit, am Sonntag dein Wort, o
Herr, zu hören. Er ist 40 Jahre alt geworden. Alle Sonntage, die er dort unten
erlebt hat, machen allein sechs Jahre aus. Am Sonntag früh las er die Zeitung.
Dann ging er spazieren, dann aß er gut, hatte Besuch, ging auf Besuch. Dein
Wort aber hat er verachtet. Er ist schuldig.
Da schrie der Mann entsetzt auf und — erwachte, schweißgebadet. Lange
lag er regungslos. Noch hielt der Schrecken ihn gefangen.
Da fiel sein Blick
auf die Wand. Richtig, da hing ja — ein wenig vergilbt — sein
Konfirmationsspruch. Eine gewisse Anhänglichkeit hatte ihn bewogen, den Spruch
sich an sein Bett zu hängen. Was darauf stand, wußte er nicht mehr. Für manches
hatte er ja ein fabelhaftes „Gummi"-Gedächtnis. Zum Beispiel Witze,
gewisse lose Worte saugten sich bei ihm fest. So was konnte er noch nach Jahren
oft bis aufs Kleinste wiedererzählen. Aber der Spruch — eigentlich hatte er
ihn auch noch nie recht verstanden.
Er richtete sich
auf und las:
„Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, sonst kann er das
Reich Gottes nicht sehen."
Und darunter stand
die zittrige Unterschrift seines alten Pfarrers, der längst tot war.
Als er ins Büro
kam, sah er etwas angegriffen aus. Seine Kollegen machten ein paar anzügliche
Bemerkungen. Er aber war ganz still. Er hatte die schwerste, aber auch die
glücklichste Nacht seines Lebens gehabt.
Nur ein Traum?