Silvester
Winrich Scheffbuch
Gehalten am 31.12.1975 in der Ludwig-Hofacker Gemeinde Stuttgart
Hebräer 13, 8-9
Jesus Christus gestern und heute und der selbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.
Herr, mach unser Herz fest. Amen.
Es gibt eine Sache, die mir Spaß macht, und die meine Kinder gerne machen: auf einer Brücke stehen und Hölzer in den Fluss zu werfen und dann steh ich auch gerne oben und schau diesen Hölzern nach, wohin es sie treibt. Das ist nämlich ganz interessant. Jedes Holz beschreibt einen andern Weg. Das eine wird schnell nach rechts getrieben, ein anderes kommt in einen Strudel und dreht sich lang im Kreise. Wieder ein anderes, das stößt gegen irgendeinen so herausragenden Stein mitten im Fluss. Und man steht dort oben auf der Brücke und sieht die Macht des Wassers, das da alles mit sich zieht und mit sich treibt. Man kann noch lang diese Hölzer sehn wie sie dort auf dem Wasser entlangtanzen, und wie sie dann irgendwo in der Ferne unserm Blick entschwinden. Ich denke, nicht anders, wenn ich auf dieses Jahr zurückblicke. An Begegnungen, die man hatte, mit Menschen, an Gespräche, die man führte, an Ereignisse, und letztendlich sogar an mein eigenes Lebensschicksal. Man spürt das mit jedem Jahr, wo man älter wird, deutlicher, wie man eigentlich nur mitgezogen und mitgerissen wird in diesem Strom, in diesen Wassermassen. Und wenn wir jetzt ein altes Jahr abschließen wollen, das kann ja keiner anhalten von uns. Wir werden weitergezogen und weitergerissen und man kann jetzt planen und sich Dinge vornehmen für das Neue Jahr, aber wir wissen es ja ganz genau, wie das ist. Wer weiß denn, wohin es uns treibt? Das kann ja ganz rasch kommen, dass wir da in so einem Strudel festgehalten werden. Und dann Monat um Monat um eine Krankheit nur kreisen. Wir hatten alles ganz anders uns vorgestellt, aber wir kommen da nicht mehr raus aus diesem Kreislauf. Und wie viele aus unserer Mitte könnten jetzt ein kurzes Wort sagen, wie sie sich 1975 auch anders vorgestellt hatten. Und dann kam der Todesfall, und seitdem kreisen sie. Sie kommen nicht mehr heraus. Es ist eine mächtige Sache um diesen reißenden Strom und dieses Wasser, und wenn man dann oben auf der Brücke steht, dann kann man darüber nachdenken, dass da ein Brückenpfeiler ist, auf dem man steht, und dann wundert man sich plötzlich, wie dieser Pfeiler in den Fluten dieses Wassers feststeht. Der wird nicht mitgezogen und der ist kein Treibholz. Der steht gestern, heute, morgen, und das Wasser stürmt auf diesen Pfeiler zu, aber der wird nicht weggedrückt. Der steht fest, und das Wasser wird weggedrückt, das Wasser wird geschoben. Ich wollte gern so ein Pfeiler sein, ich wollte gerne so fest stehen. Sie nicht auch? Das ist mein Wunsch fürs Neue Jahr! Dass geschehen kann, was will, dass eintreten kann, was will, dass ich feststehe, ich stehe nicht so fest! Aber ich wünsch mir das. Das wäre schön. Ich will kein Treibholz sein, hierhin und dorthin gespült. Sehen Sie, deshalb brauchen wir ja etwas Festes im Leben. Und jeder von uns sucht sich etwas Festes. Vielleicht ging‘s ihnen so, wenn sie mal in einem reißenden Wasser drin waren, dass Sie irgendwo gesucht haben, sich wo festzuhalten am Ufer. Vielleicht war es nur eine Wurzel, die da ins Wasser hineinhing, und da hielten Sie sich fest daran, und sagten: Ich muss mich doch wo halten können. So machen wir es alle, wir suchen im Leben einen festen Halt, und den brauchen wir. Wir sind ja so glücklich, wenn wir einen Menschen gefunden haben, an den wir uns halten können. Genügen ein paar kurze Andeutungen für Sie jetzt, um Ihnen das alles noch einmal anzureißen? Dieser eine Mensch, den wir hatten, und der uns dieses Jahr weggerissen wurde, das war doch mein ganzer Halt! Ich brauch doch im Leben irgendetwas, und seitdem hab ich nichts mehr, seitdem werde ich wieder mitgezogen und mitgerissen. An was soll man sich denn sonst halten, als an irdische Dinge? Deshalb ist wichtig, ob ich eine gute Versorgung habe. Deshalb ist wichtig, ob es mir gut geht. Deshalb ist so wichtig, ob ich gesund bin. An was soll ich mich denn sonst halten können, mir entgleitet doch alles. Ich brauch doch einen Halt. Das ist doch nicht gleichgültig. Mir bedeutet es doch selbst im Leben so viel. Machen wir uns doch nichts vor. Aber es ist uns auch das teilweise entglitten und es wird uns alles entgleiten. Daran erinnern wir uns, dass uns kein Halt, kein noch so großer irdischer Halt uns irgendwo auf ewig fest und gewiss machen kann. So groß uns unsere Ehegatten sind, so viel uns unsere Kinder bedeuten, so viel, wie wir an unsern Eltern haben, was es ist in unserm Leben, es zerrinnt uns, und es wird uns weggerissen. Das macht dein Zorn, Herr, dass wir so vergehen müssen. Das macht dein Grimm, dass wir so dahinfahren. Wie ein Strom, heißt es im Psalm 90. Wie kann man dann fest werden? Es gibt noch einen Ausweg und den behandelt der Schreiber des Hebräerbriefs und lehnt ihn auch ab. Es ist nämlich das, dass man sich an irgendwelche Lehren hinhängt. An Lehren, an Überzeugungen, Meinungen, Ideologien, an Träume, an Ideen, an Lebensgewohnheiten, und ich bewundere Menschen, die sagen: Du musst nur Disziplin haben, Ich habe oft gedacht, solch eine Disziplin habe ich nicht. Wie manche Menschen mit einer Gelassenheit das alles ertragen können, wie sie im Strom stehen mit einer eisernen Entschlossenheit fest zu bleiben. Es gibt Menschen, die sich nichts anmerken lassen, von dem toben in ihnen, drin, mittendrin, in der Unruhe ihres Herzens. Von der Ungeduld, nach außen in der großen Gelassenheit und scheinbaren Gleichgültigkeit. Nein, ich sehe auch darin keinen Weg, denn Halt und Gewissheit ist mir das nicht. Es gibt einen Halt, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade. Und nicht durch Disziplin. Und das ist ein Bild, das hier der Schreiber des Hebräerbriefs gebraucht, und ich kann dieses Bild nur so Ihnen noch einmal erzählen, damit wir es verstehen. Da sitzt einer in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. Er ist eingesperrt. Er wollte gerne hinausschauen ins Freie. Er hört draußen die Vögel zwitschern. Sommer. Er sitzt lange. Und dann ist Winter und er sinnt nach, wie jetzt seine Familie zu Hause Weihnachten feiert. Er nimmt an allem teil, aber ist getrennt. Da sind diese Gitterstäbe und er weiß, ich muss raus, ich muss raus, das ist sein Traum, das brauch ich, das brauch ich. Es kommt nicht. Es kommt der Prozess und es kommt die Verurteilung. Er steht vor dem Richter und er sagt ihm sein Urteil: Lebenslange Haft. Und dann trottet er zurück in seine Zelle und kann das alles nicht fassen. Aber dann kommt der Augenblick, wo der Gefängnisdirektor in seine Zelle hereinkommt, und sagt: Morgen können Sie Ihre Sachen packen, sie sind frei. Das Justizministerium hat einen Gnadenerlass gemacht und hat sie begnadigt. Verstehen Sie, was das für den Mann bedeutet? Der liegt nachts wach und immer wieder sieht er diesen Zettel, er kriegt ja noch ein Papier mit, das muss er lesen und lesen: Begnadigt! Wenn wir ins Neue Jahr hineingehen, ich verspreche Ihnen nichts an äußerem Glück. Ich verspreche Ihnen nicht und Gott verspricht Ihnen nicht, dass Sie dem Tod entnommen sind. Gott verspricht Ihnen nicht, dass Sie der Krankheit entnommen sind. Gott verspricht Ihnen nicht, dass Ihnen das Leid erspart bleibt. Aber er hat Ihnen seine Begnadigung zugesagt. Und über diesem Neuen Jahr steht: Er, Jesus Christus, und sagt: Ich bin bei dir, weil ich deine Ketten sprenge. Weil ich in deinem Leben dir zuerst einmal das zeige überm Neuen Jahr 1976 soll die Güte Gottes stehen, die er Ihnen persönlich zusprechen will. Die Sie erfahren sollen, dass seine Liebe und seine ganz persönliche Führung in Ihrem Leben spürbar wird. Dass Sie sagen können: Ich steh in meines Herren Hand und will drin stehen bleiben. Es gibt nichts, wo er nicht mit mir hingeht in dieses Neue Jahr, weil ich begnadigt bin! Weil er das alte zugedeckt und ausgestrichen hat. Dieser Häftling, der liest seine Begnadigungsurkunde. Ich kann mir keinen Tag im Neuen Jahr vorstellen, wo ich mir das nicht immer neu ins Gedächtnis rufe. Nicht der Tod hat ein Recht auf dich. Nicht die Mächte haben ein Recht auf dich, nicht die Menschen, du stehst in der Hand deines Herrn, in der Hand Jesu. Freue dich doch! Deshalb die Urkunde lesen! Deshalb muss das Neue Testament so einen Platz haben. In unserm Jahr 1976, um das zu wissen, ich bin begnadigt, ich bin angenommen, Jesus Christus gestern und heute, und derselbe auch in alle Ewigkeit, das heißt doch: Dieser Jesus gestern, das ist doch geschrieben aus der Zeit des Hebräerbriefs. Das heißt doch, dieser Jesus war schon da, als die Welt geschaffen wurde, dieser Jesus als der Herr war schon da, als ein Abraham unstet übers Land irrte, dieser Jesus war schon da, als das Volk Israel unter Fronherrschaft litt, dieser Jesus war schon da, als sie kein Wasser in der Wüste hatten, dieser Jesus war schon da, als Jerusalem zerstört wurde, dieser Jesus war da, damals als er diesen Menschen begegnete mit ihrer Last, als er am Grab des Lazarus sprach: Komm heraus, als er den Tod zerbrach, Jesus Christus damals, bei den Vätern, Jesus Christus gestern. Und dann das Heute, die Zeit des Hebräerbriefs. In der Offenbarung in Jesus, und seitdem in alle Ewigkeit. Er ändert sich nicht. Sie sollen das im Jahr 1976 erfahren. Wissen sie, er drängt sich Ihnen nicht auf. Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Jetzt müssen Sie sich entscheiden. Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Sie haben heute Abend Zeit, einen Entschluss zu fällen, und zu sagen: Ja, in deinem Namen will ich‘s beginnen, Jesus, ich will alles in deine Führung stellen, meine Einsamkeit, und meine Traurigkeit, meine Belastung und meine Unklarheit, wo ich nicht weitersehe, unter deinen Friedensbund, du bist es Herr, und was die Väter erfahren haben, möchte ich erfahren, in meinem Leben, dieses Jahr 1976 soll dein Jahr sein, Herr, in deinem Namen. Amen.
Wir wollen beten.
Herr Jesus Christus, du lässt uns wach sein, an diesem Ausgang des Alten Jahres. Und wir können die verrinnende Zeit mit offenen Augen sehen. Und dem standhalten. Herr, wir beugen uns unter deine harte Gerichtshand. Unter die Macht der Vergänglichkeit. Unter dies unheimliche Sterben um uns her. Das wir am eigenen Leib schon spüren. Unter dieses Zerbrechen und Altwerden. Herr, das macht dein Zorn, und wir haben es verdient. Wir können nicht anders. Herr, wir danken dir, dass wir zu dir uns hin flüchten dürfen. Und dass deine Begnadigung uns gilt. Dass dieses Neue Jahr 1976 nicht unter deinem Gericht, sondern unter deiner Begnadigung stehen soll. Herr, du willst daraus etwas Großes, etwas Wichtiges, etwas machen sogar im Licht von deiner Ewigkeit. Ob wir alt oder jung sind, ob wir schwach oder voll Kraft sind, ob wir arm oder reich sind, Herr, du kannst dieses Jahr füllen, von deiner großen Begnadigung her, und wir wollen mit deiner Kraft rechnen. Mit deinen Wundern. Und wir wissen, dass du in Freud und in Leid deine Gegenwart so machtvoll darstellen kannst, dass wir nur schweigen können. Herr, wir wollen unser Leben jetzt in deine Hand stellen, und lass uns keine Ruhe, bis jeder von uns sein Leben ganz unter deine Führung stellt. Herr, wir bitten dich auch für unsere Familien, für unsere Freunde, für die Menschen um uns her, für unsre Nachbarn, ja, für unsre ganze Stadt. Dir befehlen wir die jungen und die alten Menschen an. Du weißt, wie viel heute Nacht keine Hoffnung, keinen Halt, keine Heimat, keine Gewissheit haben. Herr, wir wollen ihnen dieses weitersagen, von dir, verzeih uns, wo wir dieses Wort ihnen schuldig geblieben sind, wo wir ihnen nicht ein Licht waren, zu dir. Herr, lass unsre Gemeinde, ja unsre ganze Christenheit auch dazu gesetzt sein im Neuen Jahr, dass Menschen in dir das Leben finden. Lasst uns gemeinsam beten: Vater unser...
Gehen sie in dieses Neue Jahr nicht nur als solche, die mit dem Strom mitgerissen werden der Vergänglichkeit, sondern als solche, die der auferstandene Herr sendet. Gehen Sie in dieses Jahr als die Zeugen dieses Herrn in seinem Dienst, in seinem Namen, und in seinem Auftrag. Herr, segne uns und behüte uns. Herr, lass dein Angesicht...