Predigten über die Bergpredigt - Teil 09/26 - Umkehrungen
Wolfgang Nestvogel
1995
Matthäus 5, 38-47
Liebe Gemeinde, es gibt einen christlichen Song, da wird sehr ehrlich beschrieben, dass auch Christen noch allerhand persönliche Schwächen haben. Auch bei Leuten, die den Glauben an Jesus ernst nehmen, kann noch ne Menge passieren. Und in dem Lied heißt es dann lapidar: „Auch der größte Glaubensheld, manchmal in die Tiefe fällt; und wer denkt, er sei perfekt, hat sich selbst noch nicht entdeckt. In dem Leben, das man führt, da ist vieles, was Gott stört. Wie der Mensch nun einmal ist, macht er Fehler, auch der Christ.“ Wer wollte, wer könnte das bestreiten? Und im Refrain heißt es dann immer: „Besser sind wir nicht, aber besser sind wir dran.“ Besser sind wir nicht. Stimmt das? Sind Christen wirklich nicht besser, als Menschen, die ohne Christus leben? Oder anders gefragt: Unterscheidet sich das praktische Leben der Christen wirklich nicht von dem ihrer Nachbarn, Mitschülern, Arbeitskollegen? Und weiter angenommen, Sie würden das von sich selbst sagen: Könnten Sie mit diesem Zustand ruhig schlafen? Stellen Sie sich einen Mediziner vor, einen Chirurgen, der Ihnen gleichmütig ins Gesicht sagt: Also ich habe zwar 16 Semester Medizin studiert, aber wo der Blinddarm sitzt oder die Galle, das kann ich auch nicht sagen. Stellen Sie sich einen Christen vor, der Ihnen gleichmütig ins Gesicht sagt: Also ich bin zwar ein Christ, aber ansonsten unterscheidet sich mein Leben auch kaum von dem anderer Leute. Wäre das normal? Jesus hält die Bergpredigt dagegen. Die Bergpredigt zeigt, Christen leben anders. Das ist ja das Motto über unserer ganzen Predigtreihe, bei der wir heute in die neunte Runde gehen: Das ganz andere Leben.
Natürlich, Christen sind nicht von Natur aus edlere Menschen, überhaupt nicht. Christen haben absolut keinen Grund zur Überheblichkeit, aber Christen haben ein Geheimnis. Sie haben eine Veränderung in ihrem Leben erfahren und darum leben sie, bei allen Schwächen, die auch noch da sind, anders. Anders als vorher und anders als die anderen. Im Leben der Christen kommt es zu Umkehrungen. Das ist unser Thema heute Morgen. Was die meisten für nahe liegend halten, das stellt Jesus in Frage. Und was die meisten für ganz fern liegend halten, davon sagt Jesus, dass wir es tun sollen. Deshalb ist die Bibel oft so überraschend und auch die beiden Abschnitte, die wir uns heute angucken werden, sind eine große Herausforderung. Und sie waren für mich eine große Herausforderung die ganze Woche über, wo mich dieser Text begleitet hat. Auf der einen Seite werden wir alte Bekannte treffen, bekannte Bibelworte, wie Auge um Auge, Zahn um Zahn, oder, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die Linke hin. Alte Bekannte, aber wir werden sehen, was Jesus hier von uns will, das ist sehr überraschend.
Zwei Bereiche aus unserem Alltag nimmt Jesus sich also vor. Für beide gibt er uns eine klare Richtlinie. Und wir können heute Morgen nicht jede Einzelheit in diesem Text ansprechen, aber wir werden versuchen die Hauptsache deutlich zu machen, so die Speerspitze, auf die es Jesus ankommt. Und am kommenden Sonntag wollen wir dann das fünfte Kapitel abschließen, da haben wir als Predigttext nur den Vers 48. Und im neuen Jahr wird dann die Predigtreihe fortgesetzt mit Matthäus 6 und 7, die ja auch noch zur Bergpredigt gehören.
Und jetzt gehen wir hinein in den Text von Vers 38 an: «Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ (2. Mose 21, 24). Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will. Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ (3. Mose 19, 18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden?»
Jesus beginnt wieder mit einem Zitat aus dem Alten Testament: «Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“» Der Satz ist allgemein bekannt. Die meisten denken dabei an brutale Rache, an grausame Vergeltung. Das könnte fast der Titel eines Western sein: Auge um Auge. Wenn wir allerdings in das Alte Testament hineingucken, dann ist eigentlich genau das Gegenteil gemeint. Ursprünglich war das ein sehr humaner Grundsatz. In der Rechtssprache heißt das jus talionis, also das Recht auf Vergeltung, und dieses Vergeltungsrecht hatte vor allem zwei wichtige Ziele. Es sollte blinde Rache ausschließen. Die Strafe soll angemessen sein: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Also wenn du mir einen Zahn ausschlägst, dann darf ich dir nicht gleich das ganze Gebiss ausschlagen. Die Strafe darf nicht härter ausfallen als das Verbrechen. Und das richtet sich gegen blinde Stammesfehden und Blutrache. Da gegen richtet sich dieser Grundsatz, weil der Mensch zur Rache neigt. Wir neigen zur Überreaktion, aber Gott sagt: Auge um Auge, Zahn um Zahn, nicht mehr. Und dann sollte dieser Grundsatz noch etwas bewirken. Er sollte Selbstjustiz ausschließen. Das Vergeltungsrecht gehörte in Israel zum öffentlichen Recht. Vergeltung durfte also nicht von Privatpersonen ausgeübt werden, wie im wilden Westen. Stattdessen waren dafür in Israel spezielle Richter zuständig. So sah es Gott vor, das war Gottes Rechtspflege für sein Volk.
Und dann gingen die Jahrhunderte ins Land und zur Zeit Jesu da war dieses Vergeltungsrecht zwar noch bekannt, aber es war ganz schön unter die Räder gekommen. Viele Schriftgelehrte führten es im Mund, aber sie hatten es längst missbraucht. Sie hatten es verfälscht. Was Gott gegeben hatte, um Gewalt einzudämmen und unter Kontrolle zu halten, das missbrauchten nun viele Schriftgelehrte, um ihre persönlichen Rachegelüste zu rechtfertigen. Und nun war die Frage: Wie weit kann ich mit meinen Rachegelüsten gehen, ohne direkt gegen den Wortlaut dieses Gesetzes zu verstoßen? Aus einem Rechtsgrundsatz war eine Vergeltungserlaubnis geworden. Und wie reagiert Jesus nun darauf in Vers 39? Er sagt: «Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen.» Schon das Alte Testament wollte ja Rache eindämmen. Jesus spitzt das noch weiter zu und sagt, ihr sollt überhaupt nicht widerstehen dem Bösen. Nun, wenn Sie diesen Satz aus dem Zusammenhang rausreißen, dann können Sie den völlig falsch verstehen. So ist das bis heute immer wieder passiert.
Manche meinen, Jesus fordert hier völlige Passivität. Also Christen sollen das Böse einfach gewähren lassen und abwarten, ob Gott etwas dagegen tut oder auch nicht. Da ist ein Überfall auf der Straße und Christen bleiben ruhig stehen und gucken zu. So ist das nicht gemeint. Jesus selbst hat dem Bösen ja aktiv widerstanden. Jesus hat Missstände benannt, er ist sogar manchmal handgreiflich dagegen vorgegangen, wenn Sie daran denken, wie er den Tempel geräumt hat und die Händler rauswarf. Das Neue Testament sagt immer wieder, dass wir auch innerhalb der Gemeinde nicht einfach alles zulassen dürfen, sondern wir müssen widerstehen, wenn sich zum Beispiel falsche Lehre einschleicht. Paulus schreibt, dass er mal an einer Stelle dem Petrus öffentlich widerstehen musste, weil der Verwirrung gesät hatte. Also, du sollst dem Bösen nicht widerstreben, heißt nicht, du sollst alles Böse passiv gewähren lassen. Ja, und dann ein anderes beliebtes Missverständnis. Zum Beispiel der russische Dichter Tolstoi hat diesen Satz verstanden als eine Aufforderung zum Pazifismus, als Verzicht auf jede staatliche Gewalt. Du sollst auf jede Gewalt verzichten, so hat er das ausgelegt. Aber auch diese Deutung kann sich nicht auf Jesus berufen. Denn Jesus hat die staatliche Gewalt nicht in Frage gestellt. Von Soldaten und Polizisten, wenn man so will, hat er gefordert, dass sie sich fair verhalten, aber er hat sie nicht aus ihrem Beruf herausgerufen. Und auch Paulus, etwa in Römer 13, hat eindeutig die Staatsgewalt als in Ordnung bezeichnet. Er schreibt in Römer 13, 1-7 die Obrigkeit ist Gottes Dienerin; sie trägt das Schwert nicht umsonst. Sie vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid. Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt.
Also halten wir das fest: Das Neue Testament fordert weder zum absoluten Gewaltverzicht auf, noch zur Passivität gegenüber dem Bösen. Sondern – und jetzt kommt’s – wenn Jesus sagt, du sollst dem Bösen nicht widerstehen, dann spricht er damit den Christen, den einzelnen Christen in seinen persönlichen Beziehungen an. Das werden wir gleich noch an den Beispielen sehen, die Jesus nennt. Also da wo anderen Menschen Unrecht geschieht, da soll ich schon eingreifen. Wenn auf der Straße jemand überfallen wird, wenn ich merke, dass in meiner Nachbarschaft jemand missbraucht wird, da muss ich schon einschreiten. Da muss ich möglicherweise auch mal Gewalt anwenden, um andere Gewalt zu verhindern. Wenn jemand verprügelt wird, muss ich vielleicht den Prügler mal festhalten und muss ihn notfalls selber zu Boden strecken. Und wo die Rechtsordnung, die ja alle schützen soll, angegriffen wird, da kann ich nicht einfach tatenlos zusehen. Und wo in der Gemeinde Dinge passieren, die gegen das Wort Gottes sind, da dürfen wir nicht schweigen. Also, du sollst dem Bösen nicht widerstehen, das richtet sich an den Christen, wie er mit seinen persönlichen Beziehungen im Alltag umgeht. Dieser Satz richtet sich an Leute, die in einer persönlichen Beziehung zu Jesus leben. Dieser Satz steht in der Bergpredigt und richtet sich an Leute, die mit den Seligpreisungen leben. Die sind hier gemeint. Und die fordert Jesus jetzt zu einem ganz anderen Lebensstil auf als dem üblichen. Und er bringt dazu vier Beispiele. Und diese vier Beispiele haben eins gemeinsam. Sie zeigen eine Grundhaltung, sie zeigen eine Einstellung, die hinter diesem neuen Lebensstil steckt.
Und wir fragen: Was ist das für eine Grundhaltung? Was haben diese vier Situationen gemeinsam? Und jetzt wird es spannend. Vers 39: „wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar.“ Die Ohrfeige galt als eine der schlimmsten Beleidigungen, als ein Angriff auf die Ehre. Und wenn Sie jemanden auf die rechte Backe schlagen wollen – hier wird vorausgesetzt, dass die meisten Rechtshänder sind – dann müssen Sie das mit der Rückseite ihrer Handfläche machen. Wenn Sie einem anderen auf dessen rechte Backe schlagen wollen, dann müssen Sie mit der Rückseite der Hand schlagen. Und das galt unter den Juden als noch mal entehrender. Was mache ich, wenn meine Ehre, meine Eitelkeit, angegriffen wird? Weiter, Vers 40: «Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel.» Hier geht es um ein Gerichtsverfahren. Es war damals so, wenn jemand die Strafe nicht abzahlen konnte, dann durfte ihm das Gericht dafür seinen Rock, so eine Art Untergewand, wir würden vielleicht sagen ein Pullover, abnehmen. Aber niemals das Obergewand, niemals den Mantel. Für manchen war der Mantel nachts gleichzeitig die Decke mit der er sich zudeckte. Kein Gericht durfte dem Menschen auch noch den Mantel wegnehmen. Das war jedermanns Recht. Und Jesus sagt, wenn jetzt jemand dein Untergewand wegnimmt, gib ihm auch noch den Mantel. Klammere dich nicht an dein Recht. Wie gehen Sie mit Ihrem Recht um?
Vers 41: „Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei.“ Jeder römische Soldat – die Römer waren ja die Besatzungsmacht – konnte einen Zivilisten auffordern: Trag mir dieses Gepäck eine Meile weit. Das waren gut 1, 5 Kilometer. Und egal was der Mensch gerade vorhatte, er musste dem römischen Soldaten dieses Gepäck eine Meile weit tragen helfen. Er musste seine Zeit, seine Kraft zur Verfügung stellen. Und Jesus sagt, wenn er dich um die eine Meile bittet, dann geh auch noch die zweite mit. Also nicht nur 1,5 Kilometer, sondern 3 Kilometer. Wenn man mich bittet: Wie gehe ich mit meiner Zeit um? Wie gehe ich mit meiner Kraft um? Ging es in den Beispielen vorher um meine Ehre, um mein Recht, um meine Zeit, so geht es am Schluss in Vers 42 um mein Geld, um meinen materiellen Besitz. Da sagt Jesus: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.“ Gib dem, der dich bittet. Dabei wird vorausgesetzt, dass derjenige, der mich bittet, wirklich bedürftig ist. Da steht auch nicht, gib jedem das, worum er dich bittet, sondern gib dem der dich bittet, das was er braucht. Also wenn mich jemand auf der Straße um Geld bittet und vieles dafür spricht, dass dieser Mensch sofort das Geld in Alkohol umsetzen wird, dann wäre es töricht, mein Gewissen mit einem 5-Mark-Stück zu entlasten. Besser ist, ich gehe mit ihm, wenn das möglich ist, zur nächsten Imbissbude und kaufe ihm dort ein Brötchen. Der Heilsarmeepastor Dankmar Fischer hat mal gesagt: Kauf demjenigen immer das, was du selber gerne isst. Und wenn du gerne Lachsbrötchen magst, dann gehe eben zur Nordsee und gib ihm das Lachsbrötchen. Und dann kann es dir passieren, dass er dir vor Freude um den Hals fällt, oder aber, dass er dir das Lachsbrötchen ins Gesicht wirft. Und dann sind wir wieder bei Beispiel 1. Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, gib ihm auch die Linke.
Und Sie merken, diese vier Beispiele haben ein großes Thema. Es geht um meine Ehre, es geht um mein Recht, es geht um meine Kraft und meine Zeit und mein Geld. Es geht um mein Verhältnis zu mir selbst. Es geht um das Thema, das mir am nächsten liegt: ich selbst. Wenn Sie ein Bild aus alten Zeiten anschauen, nach wem suchen Sie normalerweise zuerst? Und schon kleine Kinder schreien ja mit Inbrunst: Das gehört mir! Das ist meins! Das muss uns keiner beibringen, das ist ein Reflex, das ist in uns drin. Das ist das nächstliegende, dass wir um unsere Ehre, um unser Recht kämpfen, uns an unseren Besitz klammern. Und Jesus bringt nun die große Umkehrung. Und er sagt: Du sollst das Nächstliegende lassen. Das heißt Selbstverzicht, statt Selbstliebe. Ganz praktisch: Wenn jemand deine Ehre ankratzt: Was ist dann das Nächstliegende? Dass du zurückschlägst. Dass du sagst: Gut, wenn der mir ans Zeug flickt, das kann ich schon lange! Ich habe auch genug im Köcher gegen den! Selbstverzicht heißt: Ich verzichte darauf um jeden Preis meine Ehre zu verteidigen. Ich verzichte darauf, mein Mütchen zu kühlen und schlage nicht zurück, auch nicht mit Worten. Das bedeutet nicht, dass ich Verdrehungen einfach stehen lasse, immer stillschweigend hinnehme. Nein, wenn möglich soll ich schon klarstellen, was sich klarstellen lässt. Auch Jesus und die Jünger haben Dinge klargestellt. Aber in welcher Art und Weise mache ich das? Was ist die Grundhaltung meines Herzens dabei? Geht es mir um die Sache, um die Wahrheit, oder geht es mir um mein Image? Dürste ich nach Rache und Vergeltung? Jesus sagt: Lass das Nächstliegende.
Und dann Vers 40: Wie ist das, wenn mein gutes Recht angegriffen wird? Wohl gemerkt, nicht das Recht meines Nächsten, sondern meine persönlichen Angelegenheiten. Wenn ich etwas nicht kriege, wovon ich meine, dass es mir zusteht. Und wenn sich mein Innerstes aufbäumt. Wenn ich sage: Das ist ungerecht! Was soll ich dann machen? Jesus sagt: Du sollst das Nächstliegende lassen. Klammere dich nicht mit Klauen und Zehen an dein eigenes Recht. Gib den Mantel ruhig weg. Jesus hat nicht grundsätzlich verboten, Prozesse zu führen, das nicht. Aber die Bibel sagt deutlich, dass Christen nicht gegen Christen prozessieren sollen. Also ich soll als Christ mit einem anderen Menschen, der auch von sich bekennt, dass er zu Jesus gehört, nicht vor ein öffentliches Gericht gehen. Das ist im Neuen Testament verboten, weil das die Gemeinde unglaubwürdig macht. Aber gegen andere darf ich prozessieren, jedoch nicht mit Hass, nicht mit Schaum vor dem Mund.
Wie ist das, wenn jemand mein Auto beschädigt? Und der ist nicht bereit für den Schaden aufzukommen. Darf ich prozessieren? Wenn er ein Mitchrist ist, natürlich nicht. Also wenn einer meiner Kirchenvorsteher mir in mein Auto dreinfährt, darf ich gegen ihn auf gar keinen Fall prozessieren. Den muss ich versuchen anders zu überzeugen. Aber wenn jemand anderes mein Auto beschädigt, also einer, der sich nicht als mein Mitchrist bekennt, der auch Geld hat, der aus Mutwillen nicht zahlen will, dann ist nach diesem Vers ein Prozess nicht grundsätzlich verboten. Das ist keine starre Regel, aber die Frage heißt: Mit welcher Grundhaltung gehe ich an die Sache ran? Kann mein Gegenüber, der mich geschädigt hat, und wenn er noch so gemein ist und arrogant, an meinem Verhalten im Prozess irgendwie ablesen, dass ich Christ bin? Kann er das? Gehe ich so mit ihm um, dass es ihn zum Nachdenken zwingt? Gebe ich ihm die Chance etwas zu ahnen von dem neuen Leben, das Jesus mir gegeben hat? Oder ziehe ich die Sache eiskalt durch wie jeder andere auch? Das ist die Frage. Jesus geht es um meine Gesinnung, um meine Einstellung und er will, dass ich frei werde von meinem dicken Selbst. Und er will, dass ich in diesem lästigen Prozessgegner den Menschen sehe, den Gott liebt, den Menschen sehe, der Gott braucht und den Gott auch zur Bekehrung rufen will. Je mehr ich meine Selbstbehauptung zurückstelle, umso freier werde ich. Und diese Freiheit wird durchschlagen in mein praktisches Verhalten. Ganz bestimmt.
So wie bei Hudson Taylor, dem Chinamissionar. Der steht abends am Ufer. Er hatte ein Boot bestellt, das ihn über den Fluß setzen soll. Und als das Boot eintrifft von Ferne, da drängelt sich ein reicher Chinese, der es sehr eilig hat, von hinten durch, schubst Hudson Taylor zur Seite, so dass der im Wasser landet. Der Bootsführer sagt zu seinem Landsmann: Das kannst du doch nicht machen. Du steigst nicht in mein Boot ein. Und was macht Hudson Taylor? Er prustet erst mal und sagt gar nichts. Und dann lädt er diesen Chinesen ein sich doch mit in sein Boot zu setzen und gemeinsam rüber zu fahren. Hudson Taylor erzählte dann, dass sie hinterher in diesem Boot ein ganz intensives Gespräch hatten, in dem der reiche Chinese wissen wollte: Warum, Hudson Taylor, bist du so? Das war nur möglich, weil er seinen Stolz runtergeschluckt hat und seinem Selbst nicht einfach freien Lauf ließ. Und wenn dich jemand nötigt eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei, sagt Jesus. Wie ist das denn, wenn jemand unsere Geduld über- und überstrapaziert und unsere Zeit und Kraft beansprucht? Was ist dann das Nächstliegende? Das ich sage: So, nun mal Schluss! Ich habe dir geholfen, ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit getan, ich bin die eine Meile gegangen, die zwar nun nicht das römische Gesetz, aber doch der allgemeine Anstand fordert, ich habe meinen guten Willen bewiesen. Aber jetzt musst du sehen, wie du fertig wirst. Das ist das Nächstliegende.
Und wieder geht Jesus an unser Gewissen ran, an unser Selbst. Und wieder fragt er nach meiner Grundhaltung und sagt: Wenn dich jemand nötigt eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Das heißt nicht, komm jeder Forderung nach, die jemand an dich richtet. Sehen Sie, es gibt ja auch Situationen, wo wir nein sagen müssen. Es gibt auch sinnlose Forderungen. Ich habe ein Beispiel erfunden. Da geht es in einer Familie wochenlang rund. Die Kinder kommen in der Schule nicht mehr klar. Die Mutter hat sich in letzter Zeit nicht viel drum kümmern können, der Haushalt ist zu kurz gekommen, die Eheleute haben kaum noch Zeit miteinander und knurren sich ständig nur noch gegenseitig an. Die Frau macht treu im Besuchsdienst der Gemeinde mit und setzt sich außerdem für die Kinderstunde ein. Und dann kommt eines Tages der Pastor, also ich, und sagt: Wir brauchen dringend noch jemanden für unseren Frauenkreis und da habe ich an Sie gedacht. Sie können das doch so gut. Kann der Pastor dafür Vers 41 in Anspruch nehmen?, so dass die Frau sagen muss: Also du bittest mich Pastor auch noch den Frauenkreis zu machen, dann trage ich außerdem noch ein paar Gemeindebriefe mit aus.
Das wäre ein Missbrauch dieser Stelle. Jesus geht es ja um unsere Grundhaltung. Jesus fragt: Wie gehst du mit deiner Zeit, mit deiner Kraft um? Betrachtest du das als dein Privatbesitz, oder als eine Gabe, die Gott dir anvertraut hat und für die du ihm Verantwortung schuldig bist? Ist das dein Selbstbesitz, deine Zeit, oder stellst du sie Gott zur Verfügung? Und ich denke, in dem konstruierten Fall wird die Frau erst mal ihre Verantwortung als Mutter und Ehefrau wieder richtig wahrnehmen, einen Teil ihrer Zeit dafür einsetzen, dort, wo sie durch keinen anderen ersetzt werden kann. Und Gott wird dann irgendwo einen anderen Menschen bereitmachen, im Frauenkreis mitzuarbeiten. Merken Sie worum es mir geht? Es kommt nicht darauf an, dass wir jede einzelne Bitte erfüllen. Ich kann Sie mit dem Vers 41 morgen nicht unter Druck setzen. Es kommt nicht darauf an, dass wir uns mit zusammengebissenen Zähnen noch das eine oder andere gute Werk abringen und uns dann noch womöglich auf die Schultern klopfen und sagen: Ach, was bist du doch opferbereit. Statt dessen kommt es Jesus darauf an, dass wir unsere ganze Zeit und Kraft nicht als unseren Privatbesitz betrachten, der uns gehört, das wäre das Nächstliegende, sondern als eine Gabe, als ein anvertrautes Pfund, für das wir Gott verantwortlich sind. Selbstverzicht anstatt Selbstliebe. Wie stehen Sie zu Ihrer Zeit?
Und wir merken, es geht Jesus immer um das Eine, - ob es Besitz an Zeit und Kraft ist, Besitz an Geld - dass wir unser verbissenes Selbst aufgeben, unseren Drang nach Selbstverwirklichung und Selbstdurchsetzung, unseren eingefleischten Egoismus. Das sollen wir aufgeben. Das ist die Haltung, die Jesus von uns will. Und jetzt könnten manche Psychologen auf den Plan treten und sagen: Aber wir brauchen doch Selbstliebe. Selbst die Bibel fordert doch Selbstliebe. Sie sagt doch: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Nun, die Bibel fordert nicht Selbstliebe, sondern sie setzt das einfach voraus. So wie du dich selbst liebst, mit dieser Inbrunst, so sollst du auch deinen Nächsten lieben. Das ist hier gemeint. Natürlich will Gott, dass wir uns annehmen können mit unseren Begabungen und Grenzen. Er hat uns ja schließlich geschaffen, ist doch klar. Das ist unsere Würde und Gott will, dass wir ein Ja finden zu unserer Lebensgeschichte. Aber das ist etwas ganz anderes als diese eingefleischte Selbstliebe, mit der wir uns klammern an unser Selbst und feilschen um unser Recht. Aber das liegt uns nahe und darum hassen wir die am meisten, die unsere Selbstentfaltung am stärksten behindern. Wir lehnen die am meisten ab, die unser Selbst am meisten angreifen.
Und da setzt Jesus nun mit seiner zweiten Umkehrung an. Er sagt nicht nur, ihr sollt das Nächstliegende lassen, nämlich eure Selbstliebe, sondern er sagt im nächsten Abschnitt, ihr sollt das Fernstliegende tun, nämlich die lieben, die euer Selbst am meisten angreifen. Feindesliebe statt Feindeshass. Und merken Sie wie diese zweite Umkehrung die logische Folge der ersten Umkehrung ist? Wer nicht mehr ängstlich um sein Selbst besorgt ist, wer nicht mehr eifersüchtig sein Ego hätschelt. der bekommt eine ganz andere Freiheit, der kann denen viel freier und gelassener begegnen, die an der Politur seines Selbst kratzen wollen. Wer das Nächstliegende lässt, hat die besten Voraussetzungen dafür, das Fernstliegende zu tun. Feindesliebe statt Feindeshass. Und darum geht es in den letzten Versen 43-47. Da wollen wir jetzt nur noch kurz hinsehen, welchen Weg Jesus uns da aufzeigt. Ein letztes Mal verweist Jesus auf das Alte Testament.
Er sagt: «Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“» (3. Mose 19, 18). Und merken Sie, da enden die Anführungszeichen im Text, denn der zweite Teil des Satzes steht nicht mehr im Alten Testament: «und deinen Feind hassen». Nirgendwo ruft das Alten Testament zum Hass der persönlichen Feinde auf, nirgendwo. Im Gegenteil, es wird gesagt, wenn deinem Feind der Esel wegläuft, dann hilf ihm den wieder einzufangen. Aber die verbreitete Volksmeinung und die Schriften mancher Theologen sagten das anders. In den Schriften der Essener, die ihr Zentrum in Qumran hatten, steht der Satz: Sie sollen lieben alle Söhne des Lichts und hassen alle Söhne der Finsternis. Liebe deine Freunde, hasse deine Feinde. Ganz logisch, ganz einfach. Aber nicht für die Leute von Jesus. Nicht für die, die im Schlepptau von Jesus leben wollen.
Für die gilt Vers 44: «Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,». Wie kann das gehen? Sehen wir genau hin. Jesus sagt nicht, finde deine Feinde sympathisch, das steht hier nicht. Jesus sagt nicht, reißt euch zusammen und lächelt eure Feinde mal an. Was heißt lieben? Das heißt nicht, den anderen mögen, weil er so attraktiv oder freundlich ist, sondern diese Liebe lässt sich erweichen von dem, was der andere braucht. Das ist die Liebe, die Jesus meint. Der Liebende fragt nicht nach sich selbst, sondern er fragt nach dem, was der Geliebte braucht. Und das ist doch genau die Liebe, mit der Jesus uns geliebt hat. Er ist doch nicht auf diese Welt gekommen, weil diese Welt so schön und friedlich war, sondern weil sie so kaputt war. Unsere Welt war doch nicht attraktiv für Jesus, sondern er kam, weil unsere Welt ihn brauchte. Und als er für uns starb, da machte er das doch nicht, weil wir so ehrenwerte, heilige Leute gewesen wären, sondern weil wir so verlorene Leute waren. Darum starb er. Paulus schreibt einmal: Gott beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. So sieht Gott die Liebe.
Die Liebe gibt nicht zurück, was der andere wert ist. So machen wir es oft. Nein, Gottes Liebe schenkt von sich aus, als Vorgabe, was der andere braucht. Die Liebe sucht das Wohl des anderen. Die Feindesliebe sucht das Wohl des Feindes. Die lässt ihn nicht einfach gewähren, den Feind, aber sie sieht in dem Feind, genau so wie in dem Prozessgegner, den Menschen, der Gott braucht. Den Menschen, der vielleicht gefangen ist in seinem Hass und in seinem Irrtum und in seiner Sünde. Und Jesus zeigt hier, Feindesliebe ist nicht irgendein gefühlsmäßiger Krampf, sondern das heißt, dass ich praktisch etwas für meinen Feind tue. Und das Wichtigste, das ich für ihn tun kann, steht noch im selben Vers 44: «Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen,». Das heißt, betet für die, die euch verfolgen. Unsere Gefühle können wir nicht verändern, aber mit dem Beten können Sie heute schon anfangen. Und Jesus sagt, dadurch erweist ihr euch als Kinder Gottes, weil Gott genau das Gleiche getan hat. Er hat die geliebt, die seine Feinde waren und diese Welt, die sich einen Dreck um ihn scherte, die hat er geliebt. Und Jesus sagt, so sollt ihr eure Feinde lieben und für sie beten.
Es gibt einen erschütternden Bericht, der heißt: Vergib mir Natascha. Hier beschreibt ein kommunistischer Jugendführer, wie er als Bandenchef christliche Versammlungen im Untergrund in der Sowjetunion brutal aufgelöst hat. Und er erzählt nun sehr genau, wie sie die Christen dort zusammengeschlagen und in Angst und Schrecken versetzt haben. Und einmal haben sie das wieder getan und da sieht er vor sich eine alte Frau stehen, vor Angst zitternd. Aber sie betet. Und er sagt, als ich sah, dass sie betet, brachte mich das noch mehr in Wut und plötzlich stand ich mit meinem Gummiknüppel vor ihr, bereit, ihn jederzeit auf sie niedersausen zu lassen. Und sie betete laut heraus. Mehr aus Neugier hörte ich für einige Sekunden zu was sie sagte. Und da hörte ich wie sie betete: O Gott, vergib diesem jungen Mann. Zeig ihm den wahren Weg, öffne seine Augen und hilf ihm. Vergib ihm, o Gott. Und er stand immer noch mit dem Gummiknüppel vor ihr. Und er sagt, das hätte ihn so gepackt, dass es wie eine Macht gewesen wäre, die seinen Arm zurück riss und er musste rauslaufen aus dem Haus. Er weinte bitterlich und er fing an, all das in Frage zu stellen, was er monatelang den Christen angetan hatte. Und schließlich flüchtete er aus der Sowjetunion und fand dann in Kanada zum lebendigen Glauben an Jesus Christus, weil diese Frau, die zitternd und hilflos vor ihm stand, getan hat, was Jesus in Vers 44 sagt: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen. Die alte Dame fand diesen Kommunistenführer bestimmt nicht sympathisch. Sie hatte Angst, vielleicht auch Abscheu, aber sie hat für ihn gebetet und sie hat seine tiefe Not hinter der brutalen Fassade gesehen.
Wer fällt Ihnen ein? Wer macht Ihnen das Leben schwer zurzeit? Das muss ja nicht grad ein Todfeind sein. Feindschaft hat ja viele verschiedene Grade. Jesus sagt, fangen Sie heute an, diesen Menschen zu lieben. Ich weiß, das ist das Fernliegenste, das Sie sich vorstellen können, aber genau das sollen Sie tun. Tun! Nicht empfinden, tun. Jesus sagt, fang an für diesen Menschen, der dich so furchtbar ärgert oder nervt oder unterdrückt, zu beten. Fang an in ihm den Menschen zu sehen, der Gott braucht. Warum fällt uns das so schwer? Warum machen wir das so selten? Der Grund ist immer derselbe, unser störrisches, mächtiges Ich. Und deswegen lassen Sie uns das Ganze dadurch abschließen, dass wir fragen: Wie kommen wir los von unserem Ich?
Wir versuchen das Ganze zusammenzufassen und zu fragen: Was sollen wir jetzt damit anfangen? Jesus sagt, du sollst das Nächstliegende lassen: Selbstverzicht anstatt Selbstliebe. Du sollst das Festliegende tun: Feindesliebe anstatt Feindeshass. Und das fällt uns so schwer, weil unser Ich so stark ist. Wenn uns einer beleidigt, dann poltern wir zurück. Wenn uns jemand unser Recht nimmt, dann regen wir uns auf. Wenn jemand unsere Zeit beansprucht, dann machen wir erst einmal dicht. Und wenn jemand unser Geld will, dann halten wir es erst mal fest. Und wenn uns jemand anfeindet, dann steigt ganz von selbst der Hass in uns hoch. Wie kommen wir weg davon? Wie werden wir frei? Jesus sagt, es gibt nur einen Weg dorthin. Und er hat den Weg beschrieben in Markus 8, 34. Da sagt er: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Sein Kreuz auf sich zu nehmen das heißt nicht, jeder soll nun mal sein Päckchen tragen, sondern wer sein Kreuz auf sich nahm, der war auf dem Weg – wohin? – zum Sterben. Der hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Und das meint Jesus hier. Er sagt: Unser dickes Selbst muss sterben. Der nehme sein Kreuz auf sich und verleugne sich selbst. Unser dickes Ich muss durchgestrichen werden. Da gibt es nichts mehr auszubessern oder zu reparieren, dass wir etwas selbstloser und etwas freundlicher werden. Unser Selbst, sagt Jesus, ist unverbesserlich und die einzige Möglichkeit davon loszukommen liegt darin, dass unser Selbst stirbt.
An keinem Menschen können Sie das so gut studieren wie an Paulus. Sehen Sie, er wusste genau was er konnte, intellektuell und religiös. Das war ein frommer, kluger, rechtschaffener Mann. Und das ging so lange gut, bis er Jesus begegnete und bis Jesus dem Paulus zeigte, wie er wirklich dastand, wie es wirklich im Herzen von Paulus aussah. Und da entdeckte Paulus seinen Stolz, seine Selbstgerechtigkeit und seine Selbstvergötterung und seinen schrecklichen, beißenden Hass auf die Christen. Und da begriff Paulus wie gefangen er war in sich selbst. Und da wurde ihm schlagartig klar, es gibt nur eine Rettung für mich: Du, Jesus, musst mir mein altes verkrümmtes Selbst rausreißen und musst mir ein neues Selbst schenken. Du, Jesus, musst selbst in mein Leben hineinkommen und musst es von innen heraus neu machen. Du musst über mich bestimmen, Jesus, du musst mich führen. Und wenn mein altes Selbst wieder aufstehen will, wenn meine alte Selbstsucht sich wieder durchsetzen will, wenn sie wieder hochkommt, so wie altes Unkraut immer wieder hochkommt, Jesus, dann musst du sie bezähmen. Und du musst das stoppen. Und du musst es zum Schweigen bringen in mir. Und so konnte Paulus dann in Galater 2 schreiben: Ich bin mit Christus gekreuzigt. Das heißt, ich habe mein Kreuz auf mich genommen, mein Ich ist tot. Und dann fährt er fort: Ich lebe, doch nun nicht ich, – nicht das alte Ich, nicht der alte Paulus, nicht der alte, selbstsüchtige Musterschüler Paulus, nein – sondern Christus lebt in mir. Galater 2, 19b-20a: „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“
Es ist immer ein Wunder, wenn ein Mensch frei wird von sich selbst. Aber dieses Wunder kann heute Morgen passieren. Wenn jemand hier ist, der die Selbstherrschaft über sein Leben aufgeben und an Jesus abtreten möchte, sagen Sie ihm das doch. Sagen Sie ihm doch: Herr, ich bin erschrocken über mein störrisches Ich. Ich bekenne Dir, dass ich selbstsüchtig und selbstverliebt bin. Aber ich bin bereit dieses mächtige Ich aufzugeben. Bestimme Du über mein Leben, über meine Motive, über meine Gedanken. Mach mich frei von mir selbst. Wer das wagt, wer diese Veränderung riskiert, der wird keine Marionette, sondern eine farbige Persönlichkeit. Der wird nicht schwach, sondern stark.
Und so schließe ich mit der Schlüsselstelle im Leben von Georg Müller. Das war so ein Starkgewordener, der hat in Bristol im 19. Jahrhundert ein berühmtes Waisenhaus aufgebaut. Und viele andere Menschen darüber hinaus hat er geprägt. Wie wurde Georg Müller zu dieser Persönlichkeit? Wo lag das Geheimnis dieses Lebens? Georg Müller hat einmal am Ende seines Lebens eine Antwort darauf gegeben. Er sagt: Es kam ein Tag in meinem Leben, wo ich starb. Ich starb dem eigenen Ich des Georg Müller, meinen Meinungen, meinen Vorzügen, meinem Willen. Ich starb auch dem Lob und den Beschuldigungen anderer Menschen. Ja, ich starb sogar dem Lob und Tadel meiner Brüder und Freunde. Seitdem versuche ich nichts anderes als Gott zu gefallen.
Das hieß nicht, dass Georg Müller die Sache ein für alle Mal im Griff hatte. Keineswegs. Das alte Ich ist auch bei ihm immer wieder hochgekommen. Aber die Grundentscheidung seines Lebens war gefallen. Er hatte sein Selbst in den Tod gegeben. Das war seine Grundsatzentscheidung. Und welche Grundsatzentscheidung treffen Sie? Amen.